Kapitel sechs
»Jahrelang habe ich an diesen Moment gedacht!« rief er nach Luft ringend aus. Unsere Umarmung hatte ihm den Atem geraubt. »Und … und … deine Antwort auf die Frage: Willst du … willst du meine Nummer Eins sein, meine Lebensgefährtin?« Völlig überrumpelt, konnte ich nichts anderes erwidern, als daß ich erst meine Gedanken ordnen müßte, und während ich noch sprach, wurde er auf das Kind aufmerksam. Er streichelte der Kleinen sanft die Wange und meinte, es sei für ihn als Aquarier kein Problem, daß sie einen anderen Vater hätte, er würde sie mit Freuden aufziehen wie seine eigene Tochter. »O nein«, sagte ich, »du verstehst mich nicht. Dein Antrag kommt nur so plötzlich.« Im stillen dachte ich: »Warum zögere ich eigentlich? Hat Blaine Fracass' Antrag mich für die Ehe verdorben? Oder habe ich nur Angst, ihm zu sagen, wer der Vater des Kindes ist?«
»Laß sie erst einmal zur Besinnung kommen«, tadelte Anna mit einem Lachen. »Derweil könntest du auch mir guten Tag sagen. Immerhin bin ich nicht ganz schuldlos an diesem Konnex.« Sie erklärte, daß ihre Maria Theresa und seine Molly ein und dieselbe Person waren. Zum Dank gab er ihr einen achtungsvollen, aber flüchtigen Kuß auf die Wange (ohne vor lauter Freude zu begreifen, auf welch bemerkenswerten Zufall sie anspielte), dann ergriff er meine beiden Hände und zog mich wieder an seine Brust, während ihm Freudentränen in die Augen stiegen. »Nun«, schlug Anna vor, »wir treffen uns beim Landungsobelisken in, sagen wir, zwei Stunden?« Er stimmte so rasch und begeistert zu, daß es schon an Unhöflichkeit grenzte; ich dagegen mußte mich erst überzeugen, daß das Kind bei ihr wirklich gut versorgt war, und stieß sie damit wieder vor den Kopf; immerhin war sie eine Hebamme, von ihren menschlichen Qualitäten ganz zu schweigen. Doch sie trug es mit Humor, hob die kleine Hand des Babys und bewegte sie winkend auf und ab, als Tad und ich Arm in Arm zum Wald spazierten. Dort gab es ein Vogelhaus, sagte er, mit einem idyllischen Bach und einer zauberhaften Pagode. Das üppige Laubdach und die stattlichen Eichen übten einen beruhigenden Einfluß auf ihn aus und versetzten auch mich in eine besinnliche Stimmung, was ihm nicht verborgen blieb. »Vielleicht fragst du dich immer noch, was Liebe ist.« Diese Bemerkung bezog sich auf unser letztes Gespräch, das vom Wüten des Sturms so grausam unterbrochen worden war.
Ich erwiderte, daß ich seither beträchtliche Erfahrungen auf diesem Gebiet gesammelt hätte, und zwar dermaßen gründlich, daß es unaufrichtig von mir wäre, ihm nicht die ganze Geschichte zu erzählen. Wenn er anschließend immer noch bereit war, mich zu seiner Nummer Eins zu machen, dann wollte ich von Herzen gern seinen Antrag annehmen, wenn ich auch eine so große Ehre vielleicht gar nicht verdient hatte. Ein wenig überrascht meinte er, selbstverständlich sollte ich ihm alles erzählen, aber zuerst müßte ich seinen Bericht anhören, denn wenn ich daran etwas auszusetzen fand, war ich in keiner Weise verpflichtet, ihn meinerseits ins Vertrauen zu ziehen, außer, ich hielt ihn dessen für würdig. Ich nickte, und er schilderte mir im Weitergehen seine Erlebnisse. Nachdem er ans Ufer gespült und zur Wiederbelebung ins Krankenhaus geschafft worden war, hatten ihn die Eltern zur Rekonvaleszenz nach Hause geholt. Der Aufenthalt dort deprimierte ihn so sehr, daß er sich dem Wunsch seiner Eltern entsprechend an der Hochschule für Rechtsberatung einschrieb und erst am Ende des ersten Quartalsemesters (es handelte sich um ein komprimiertes, einjähriges Studium) wieder zur Besinnung kam. Er flüchtete vom Universitätsorbiter zum Mond und wurde dort – dem Chef sei Dank! – von mehreren Mitarbeitern in den Glauben der Hochaquarier eingeführt. Eine von ihnen war Anna gewesen. Nach einigen Jahren in der Organisation erreichte er den Status des Geachteten Beraters und erwarb sich gleichzeitig einen gewissen Ruf im Underground-Skyway als wagemutiger Fährmann, der entlaufene Androiden zu sicheren Freistätten in Armstrong geleitete. Dann, nachdem der Kodex ratifiziert und das Projekt Horizont in Angriff genommen worden war, verlegte er sein Tätigkeitsfeld auf den Mars, um bei der Erbauung Mandalas zu helfen, der Hauptstadt, ein nicht ungefährliches Unternehmen wegen der von Frontera ausgehenden verdeckten Sabotageakte und Infiltrationsversuche.
Der Punkt, von dem er fürchtete, ich könnte daran Anstoß nehmen, war nichts weiter als die Neigung, seinen amourösen Instinkten im Rahmen der Glaubensgemeinschaft freien Lauf zu lassen. Seit seinem Beitritt hatte er viele Affären gehabt und zahllose Semis gezeugt, wie ich schon von Anna erfahren hatte. Doch da ich über den Glauben und die dazu gehörenden Gebräuche nicht Bescheid wußte, glaubte er, ich könnte mich – gelinde gesagt – abgestoßen fühlen oder ihn für einen Wüstling und Lustmolch halten.
Ich fühlte mich versucht, schallend zu lachen, in Anbetracht meiner eigenen Vergangenheit, doch dieser unheilbare Romantiker rührte mich so sehr, daß ich nur lächelte und ihm Vergebung gewährte. Inzwischen hatten wir das Vogelhaus erreicht, ein wunderschönes Heim für unzählige Spezies terrestrischer Vögel, exotischer Pflanzen und Bäume. Noch idyllischer wirkte die Anlage durch einen gewundenen Bach und zahlreiche murmelnde Rinnsale. Die Pagode, zu der er mich führte, war leer, also waren wir ganz für uns. Wir setzten uns auf eine der Bänke, die an den Wänden entlangliefen. Er entzündete eine Ekstarette, an der wir abwechselnd zogen – eine milde, selbstgezogene marsianische Mischung –, und forderte mich auf, jetzt zu erzählen, wie es mir ergangen war. »Also gut«, sagte ich und begann wie er mit dem Augenblick, als ich von der riesigen Welle auf den Strand geworfen wurde, doch von da an trennten sich unsere Wege: Der meine führte stracks in den Dodger District, statt heim nach Newacres. Als ich von meinen Aktivitäten dort berichtete, verschluckte er sich am Rauch der Ekstarette.
»Ich hielt es nur für natürlich, mich auf diese Weise anzubieten«, verteidigte ich mich, worauf er antwortete: »Ja. Ja, natürlich. Ich verstehe sehr gut. Wir Aquarier stehen über moralischen Wertungen. Das sind die Methoden der Gebieter. Sprich weiter.« Trotzdem schien die Schilderung meiner Beziehung zu Eva auf Malibu ihm ähnliche Schwierigkeiten zu bereiten, wenn er sie auch sofort herunterspielte und Neigungen dieser Art als ebenfalls ganz natürlich bezeichnete. Darüber hinaus gratulierte er mir zu dem Erfolg, den diese Partnerschaft mir gebracht hatte. Als nächstes erzürnte und entsetzte ihn der Versuch seines Vaters, mich zu ermorden. Er sagte mir, daß er von der Schießerei im Malibu-Cove gewußt hatte, aber nicht, daß ich das Ziel des Anschlags gewesen war. Vielleicht bedeutete es für mich – wie für ihn – eine Genugtuung zu erfahren, daß diese Episode meinem alten Widersacher zehn bis fünfzehn Jahre auf Ganymed eingetragen hatte, wegen Totschlags, denn einer seiner fehlgegangenen Schüsse hatte einen Gast im Nebenzimmer getötet.
Ich sagte, nein, es wäre keine Genugtuung, und ich bedauerte das Unglück, das ich über seine Familie gebracht hatte, doch er meinte, da gäbe es nichts zu bedauern, Ganymed wäre noch zu gut für solche wie ihn, er verdiente Einzelorbit und nicht wegen der fahrlässigen Tötung – das Urteil war gerecht –, sondern weil er versucht hatte, mir etwas anzutun. »Nun, ich wünsche das keinem«, hielt ich ihm entgegen, »nicht einmal deinem Vater, und immerhin war ich das Opfer.« Das besänftigte ihn ein wenig. Anschließend wollte ich wissen, weshalb es ihn so überrascht hatte zu erfahren, daß ich darin verwickelt gewesen war, wenn er von dem Zwischenfall wußte.
Er erklärte, sein Vater habe vor Gericht ausgesagt, es sei ihm nur darum gegangen, eine entlaufene Einheit zu exterminieren, sein Eigentum, die er in dem Hotel entdeckt hatte, wo sie sich als Freudenmädchen ausgab. Doch Tad hatte die Behauptung für eine klägliche und verzweifelte Ausrede gehalten und ihm nicht geglaubt, ebensowenig wie der Richter, denn das Urteil und die harte Strafe berücksichtigten keinerlei mildernde Umstände. »Vielleicht war ich so sicher, daß er log, weil ich nicht glauben wollte, daß du so tief gesunken sein konntest. Oh, es tut mir leid, Molly. So habe ich das nicht gemeint. Ich …« Aber das Unheil war geschehen. Ich wandte rasch das Gesicht ab, als wäre ich geschlagen worden, und wollte die Schande verbergen. »Das war unmöglich von mir. Ich entschuldige mich. Liebling. O bitte, sieh mich an. Es war nur eine alte Konditionierung. Wirklich. Ich verurteile mich zu zehn Sitzungen im Trichter, im Ernst.«
»Trichter?«
»Ja. Der Läuterungstrichter. Ein Dissolator, mit anderen Worten. Du weißt schon, ein Meditationsförderungsgerät. Es sieht aus wie ein Kreisel. Man stellt es an und projiziert all seine Komplexe hinein. Es ist phantastisch. Besonders für Novizen; sie benutzen ihn dazu, sich von negativer Energie und moralischen Tabus zu befreien. Offenbar könnte ich einen Auffrischungskurs gebrauchen. Es tut mir leid. Du mußt mir verzeihen.«
Natürlich verzieh ich ihm; es wäre grausam gewesen, es nicht zu tun. Um das Thema zu wechseln, erkundigte ich mich nach seiner Mutter und seiner Schwester. Er antwortete, daß sie seines Wissens immer noch in Newacres lebten, denn seiner Mutter war bei der Scheidung das Haus zugesprochen worden. Sie pflegte immer wieder freundliche Grüße zu schicken, in Gestalt professioneller Entprogrammierer, denen er bis jetzt hatte ausweichen können. Er wollte lieber den Rest meiner Geschichte hören. »Bist du sicher?« erkundigte ich mich. »Ja, ja, selbstverständlich.« Also erzählte ich ihm von Hollymoon und meiner unvermuteten Entdeckung in den Stallungen. »Was! Junior lebt und ist ein Holostar?! Oh, der Konnex ist zu verrückt, um wahr zu sein! Nicht einmal ich war so optimistisch zu glauben, ihr könntet beide den Sturm überlebt haben. Weiter. Nur weiter.«
Ich beschrieb unsere Begegnung auf der Treppe, wie ich ihn aus dem Detektivholo erkannt hatte, und wollte eben mit einem tiefen Atemzug auf die Besonderheiten unserer Beziehungen eingehen, als er die Gelegenheit nutzte, um auszurufen: »Warte! Ist er etwa Lance London aus der Mace Pendleton-Krimiserie?« Ich gab zu, daß ich ihn unter dem Namen Lance gekannt hatte, ja, aber das war, bevor ich seine wirkliche Identität entdeckte. Das Holo, in dem wir zusammen aufgetreten waren (ich allerdings nur als Statistin), hieß Mord in Orbiter Sieben.
»Guter Chef! Das habe ich vier Mal gesehen. Sie zeigen es immer auf den Heimatflügen in den Jumbos. Junior ist Lance London? Das ist … das ist einfach sensationell! Erzähl weiter.«
Ich war einfältig genug, der Aufforderung Folge zu leisten, und auf einmal ging eine plötzliche und erschreckende Veränderung mit ihm vor. Er wurde bleich, lächelte gequält und schien nahe daran zu sein, in Ohnmacht zu fallen. »Aber Molly, das ist Inzest.«
Ratlos suchte ich in meinem Wortschatzspeicher nach, doch die trockene und knappe Definition rechtfertigte keineswegs den unheilvollen Beiklang, mit dem er das Wort befrachtet hatte. Nun ja, was immer es für ihn bedeutete, ich war sicher, er würde darüber hinwegkommen. »In den Trichter damit«, sagte ich und tätschelte ihm die Hand.
»Wir werden es versuchen, Molly. Wir werden es versuchen.«
Um ihn abzulenken, erwähnte ich, daß man bei genauer Überlegung den Eindruck gewinnen konnte, mein scheinbar planloser Weg von Newacres über Los Angeles zum Mond entspräche in etwa seinen eigenen Stationen, als hätte ein unsichtbares Band mich geleitet. Sofort wurde er wieder lebhafter und fand sich zu einem Kompliment über mein Formatierungstalent bereit. Wenn auch noch roh und ungeschult, meinte er, ließe es doch ein großes Potential vermuten. Unser Konnex konnte nur durch gemeinsame Anstrengungen zustande gekommen sein, als direktes Ergebnis der kontrollierten Manifestation seiner innigsten Wünsche in Verbindung mit den meinen. »Ja, ich weiß«, sagte ich, eingedenk dessen, was Anna mir erzählt hatte, doch obwohl ich mich von seinem Lob geschmeichelt fühlte, machte ich ihn darauf aufmerksam, daß ich niemals bewußt unser Wiedersehen imaginiert hatte, das Verdienst also doch ihm allein zufiele. »Schon, aber wie Seti zu sagen pflegt: ›Auf den untersten Ebenen sind alle Leben untrennbar miteinander verbunden‹, deshalb, bewußt oder unbewußt, hast du mich gesucht. Sieh es mal so: Ohne die Begegnung mit meinem Vater im Malibu Cove – eine furchtbare Sache, für die du mein ganzes Mitgefühl hast – und ohne Evas Herzlosigkeit hätte es dich niemals nach Hollymoon und Armstrong verschlagen, und wir hätten einander nie wieder in die Arme schließen können.«
»Doch andererseits hätte ich auch nicht soviel leiden müssen. Mein neuester Gebieter hat mich mißbraucht, dann zur Kur geschickt, ich wurde zweimal verkauft, zweimal zurückgebracht und mußte erleben, daß ein Tierarzt mein Kind zur Welt brachte. Ich kann die Vorstellung nicht akzeptieren, Tad, daß all das unterschwellig mein Wunsch gewesen sein soll. Und war es tatsächlich meine bevorzugte Realität, durch Lüge zur Prostitution verleitet, angeschossen, ausgestoßen und nach Hollymoon verfrachtet zu werden, wo ich ein Kind mit meinem eigenen Sohn zeugte, der jetzt als Zombie dahinvegetiert, weil ich mich in seine Lebensphilosophie eingemischt habe? War das mein Werk? Bestimmt hätte ich einen direkteren und angenehmeren Weg gefunden, um von hier nach dort zu gelangen. Was deine Philosophie – vorausgesetzt, sie stimmt überhaupt – außer acht läßt, ist die Tatsache, daß niemand in einem Vakuum formatiert: Wir beeinflussen uns gegenseitig, nicht selten auch konträr.«
»Ja. Ohne Kooperation geht es nicht.«
»Ich wollte nicht mit deinem Vater kooperieren! Auch nicht mit Hal, den Hart-Pauleys, den Nonnen, Roland, Blaine Fracass und Stellar Entertainment!«
»Und doch ist es zu deinem Besten gewesen, denn dein Weg hat dich nach Horizont geführt.«
»Noch nicht!«
»Du mußt den Glauben haben, Molly.«
»Glauben ist ein Programm.«
»Ich rede nicht von etwas, das man schluckt.«
»Wovon redest du dann?«
»Du programmierst dein … aber das ist blödsinnig. Du selbst hast es mir gesagt! Erinnerst du dich nicht? Als wir auf dem Meer trieben, hast du mir die Botschaft des Chefs erklärt.«
»Oh. Er ist tot.«
»Off line. Vorübergehend. Er wird sich wieder melden. Aber Liebling, ich will nicht mit dir streiten.«
»Ich auch nicht. Nur, ich habe es recht schwer gehabt. Ich bin gereizt. Tut mir leid, daß ausgerechnet du darunter leiden mußt.«
»Aber natürlich sollst du wütend sein, wenn dir danach ist. Deine Tage als liebes, fügsames Dienstmädchen sind vorbei. Laß dich ruhig gehen. In den Trichter damit. Im Lauf der Zeit wirst du lernen, mehr Geduld mit dir selbst zu haben, und entsprechend formatieren.«
»Hmmm. Du glaubst immer noch, was mir zugestoßen ist, hätte ich selbst veranlaßt. Schon gut. Vielleicht ist ja etwas Wahres dran. Zumindest bin ich bereit, diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen.« (Im stillen fügte ich hinzu: »Was habe ich zu verlieren?«)
»Das ist meine Molly!« Er umarmte mich. »Jetzt frage ich dich noch mal: Willst du meine Nummer Eins sein?«
Ich lächelte. »Habe ich eine Wahl?« Mein leichtfertiger Ton in einem so ernsten Moment ärgerte ihn. Zwar versuchte er zu lächeln, aber es glückte ihm nicht ganz.
»Oh, es tut mir leid.« Ich legte ihm die Arme um den Hals. »Natürlich will ich deine Nummer Eins sein. Um bei eurem Bild des Rades zu bleiben: Speichen habe ich, der Chef weiß es, mehr als genug gehabt.«
»Ein schlichtes Ja hätte genügt.«
»Dann also, ja. Ja, ja!« Wir besiegelten das Versprechen mit einem Kuß.
Doch als er auf dem Rückweg zum Landungsobelisken bemerkte, ich müßte mich erst im Glauben unterweisen lassen, bevor wir in einer Aquarierzeremonie zusammengegeben werden konnten, geriet mein Denkvermögen sofort wieder in Aufruhr, denn seine Forderung erinnerte mich an Blaine Fracass, der unsere Heirat auch von meiner Konvertierung zum Humanismus abhängig gemacht hatte. »O nein, so formell geht es dabei nicht zu«, beruhigte mich Tad. »Du trinkst einen Schluck des lebenspendenden Wassers, und damit hat sich's. Viel wichtiger ist, daß du sobald wie möglich anfängst, die Formatierungstechniken zu studieren. Ich werde dir dabei helfen.«
Etwas versöhnlicher gestimmt, sagte ich, daß die Riten der Aquarier weniger kompliziert zu sein schienen als die der Humanisten. – »Nun, das will ich doch hoffen!« Er war pikiert, und ich mußte mich wieder einmal entschuldigen. Zu meinem Glück war er nicht nachtragend und meinte, es sei schon in Ordnung, er könne mich sehr gut verstehen. Es gäbe auch keinen Grund zur Eile. Wir konnten in Horizont zusammengegeben werden, nachdem ich die Spulen studiert und eine Zeitlang dort gelebt hatte. »Aber Tad, wie komme ich hin? Ich bin ein P9 auf der Flucht. Ich kann nicht einfach einen Jumbo besteigen wie du.«
»Natürlich kannst du. Als meine Sklavin. Wir lassen gefälschte Papiere anfertigen. So wird das immer gehandhabt. Ich gebe zu, es wird eine ungemütliche Reise, im Laderaum, mit den Hunden und Katzen, aber das ist bald vergessen, wenn wir beide erst auf dem Mars gelandet sind. Einverstanden?«
Was sollte ich sagen? Er bemerkte meinen Mangel an Begeisterung und versuchte, meine Laune zu heben, indem er unsere neue Heimat schilderte und dabei viele Details erwähnte, von denen auch Anna gesprochen hatte. Die Sache mit dem Jubilee allerdings war mir neu. Es handelte sich dabei um den zweiten Jahrestag der Gründung von Horizont, eine Art Weihnachten, Neujahr, 1. Mai und Karneval auf einmal, und dieses Fest war in vollem Gange gewesen, als er über das geheime Nachrichtennetz Annas Nachricht von meiner Ankunft in Armstrong erhalten hatte. Um die Fähre zum Orbiterhafen und den Raumer zum Mond noch rechtzeitig zu erreichen, hatte er den Höhepunkt des Tages verpaßt, die allgemeine Target Reality Image Projection (TRIP), die im Amphitheater abgehalten wurde, um die Rückkehr des Chefs zu imaginieren. Bis jetzt hatte Er verabsäumt, Seine Anwesenheit kundzutun, doch das vermochte ihre Hingabe und Überzeugung nicht zu erschüttern, daß Er sich in Bälde offenbaren werde, denn es war unvermeidlich, daß die prophezeite Generation, die die Sterne erobern sollte (die Semis), jetzt, da Horizont verwirklicht war, on line kam. Dieser Logik zufolge und in Anerkennung ihrer Bemühungen, Sein Format zu realisieren, würde der Chef in Seinem Großmut sie durch Seine Rückkehr belohnen.
Ich hatte meine Zweifel, behielt sie aber für mich. Statt dessen erwähnte ich beiläufig, daß meine Tochter (oder Enkelin, je nachdem) am Tag der Jahresfeier geboren worden war. »Oh!« sagte er und blieb stehen, um über die Synchronität der Ereignisse nachzudenken. Von unserem Platz aus konnten wir Anna auf einer Bank in der Nähe des Obelisken sitzen sehen. Wir winkten, und sie winkte mit der freien Hand zurück, während sie im anderen Arm das Baby hielt. (Es schien ihr nichts auszumachen, daß aus den zwei Stunden drei geworden waren.) Wir gingen weiter, und Tad fing an, sich ernsthaft mit der Suche nach einem Namen zu beschäftigen. (Es freute ihn, daß ich seine Ankunft abgewartet hatte, um mich mit ihm zu beraten.) Auf dem Weg vom Waldrand zum Obelisken machte er ein halbes Dutzend Vorschläge, die mir allesamt nicht zusagten. Schließlich bot ich ihm an, daß ich jetzt einige Namen nennen wollte, und er sich dazu äußerte. (Wirklich, seine Einfälle waren so unmöglich, daß ich mich genierte, konstruierte Geschmacklosigkeiten wie Mandalina, das ach so beliebte Harmonie und das unverzeihliche Chefina, ein Alptraum, den ich mir nachdrücklichst verbat.) »Warum nicht Jubilee?« fragte ich und nahm die Kleine auf den Arm. Tad war sofort einverstanden. Dann lud Anna uns zum Essen ein und rechtfertigte die extravagante Ausgabe von der Gemeinschaft gehörendem Mel damit, daß ein Konnex wie unserer einfach gefeiert werden mußte. Sie kannte ein preiswertes, aber gutes thailändisches Restaurant an der Peripherie des Kasinoviertels. Wir nahmen ein Lufttaxi, und Anna machte uns eigens darauf aufmerksam, daß es von einem Modex-Daltoni gesteuert wurde. Das also war der Grund für das gleichgültige Benehmen des Piloten und seinen laxen Fahrstil, zwei Dinge, die ich nie zuvor bei einer Taxi-Einheit bemerkt hatte. »Aber ist er immer noch zufrieden damit, den Gebietern zu dienen?« fragte ich Anna mit gedämpfter Stimme, und sie erwiderte in gleicher Weise: »Der neue Standard erlaubt nur eben genug Spielraum an bewußter Wahrnehmung für die Entwicklung individueller Eigenheiten, während die strikte Tätigkeitskontrolle weiter beibehalten wird. Selbstverständlich sind sie sich der größeren Zusammenhänge bewußt, doch nur relativ wenige ziehen daraus die Konsequenzen, obwohl dadurch – wie schon gesagt – auf interplanetarer Ebene das Flüchtlingsaufkommen größer wird, als wir bewältigen können – dennoch sei dem Chef Dank dafür.«
Mir fiel dieselbe neue Attitüde bei den Kellnerinnen im Restaurant auf; nicht, daß sie mürrisch oder unhöflich gewesen wären, nur einen Deut weniger dienstbeflissen. Einige der Gäste schienen daran Anstoß zu nehmen, ich dagegen sah keinen Grund, mich zu beschweren. Vielmehr fand ich es erstaunlich und wunderbar, sogar während ich an dem lauwarmen Rad na kaute, das uns nach langer Wartezeit aufgetischt wurde. Und wenn es ein Verbot gegen das Stillen im Speisesaal gab, war man nicht daran interessiert, es durchzusetzen, denn niemand sagte ein Wort, als ich das Oberteil meiner Toga herunterschob, damit Klein-Jubilee trinken konnte. An manchen Tischen schaute man verärgert drein, aber Tad sagte, ich sollte mich daran nicht stören, nichts durfte je wieder unser Glück trüben. In diesem Stil positiven Denkens redete er weiter und improvisierte für uns eine Zielrealität, die einen schnellen und sicheren Flug nach Horizont beinhaltete, wo wir zusammengegeben wurden, uns niederließen und eine große Familie gründeten. Nach seiner Rechnung würde Jubilee Ende des Jahres drei Brüder und Schwestern haben. Welch eine reiche Ernte stand uns bevor!
Ich wandte ein, daß mir die von ihm imaginierte Zukunft durchaus sympathisch sei, aber es fehlte noch etwas ganz Entscheidendes, ohne das ich nicht glücklich sein könne, und er, wie ich hoffte, auch nicht. Hatte er Tad junior vergessen? Er versicherte mir, daß es keine Absicht gewesen sei, doch ich ahnte eine durchaus verständliche Reserviertheit, denn wer wäre auf die Idee gekommen, eine derartige Komplikation zu imaginieren? Wenn Junior bei uns lebte, wer würde die Nummer Eins sein und wer die Speiche? Es war zuviel für Tad.
Die Neuigkeit, daß es sich bei Junior um Lance London handelte, war für Anna eine große Überraschung, und während sie sich nicht genug tun konnte mit erstaunten Ausrufen, bemerkte ich bei Tad einen deutlichen Vaterstolz, den ich einigermaßen unangemessen fand in Anbetracht des Preises, den unser Sohn für seinen Ruhm bezahlt hatte. Allein der Gedanke daran, wie man ihm mitgespielt hatte, brachte mich zum Weinen. Wieder machte ich mir bittere Vorwürfe und klagte, bestimmt würde er mit der Zeit immer tiefer sinken, bis hinab zu den Wegwerfdarstellern, die bei gefährlichen Aufnahmen verbraucht und dann ausgemustert wurden, oder vielleicht überließ man ihn der Benway-Klinik zu Forschungszwecken.
Tad und Anna waren alarmiert. Tad wunderte sich allerdings über einen Punkt: Wie konnte das Studio mit dieser Art von kaltblütigem Androidenmißbrauch davonkommen, seit dem Inkrafttreten des Kodex? Anna wußte es und klärte ihn darüber auf, daß während der Jahre seiner Abwesenheit die Studios und Kasinos sich zu einem Kartell zusammengeschlossen und der TWAC eine Ausnahmeregelung abgerungen hatten. Initiator des Ganzen war Micki Dee gewesen. Wieder dieser Mann! Aufgebracht begann Tad, tollkühne Rettungspläne zu entwerfen: mittels einer Panoramatram in die Studiokuppel eindringen; die Kuppel durch Laserbeschuß knacken; Junior bei Außenaufnahmen einfach entführen. Das waren nur einige der gemäßigteren Vorschläge, mit denen er aufwartete in dem spürbaren Bemühen, den vorherigen Mangel an Interesse gutzumachen. Eine praktikablere und durchdachtere Lösung kam von Anna.
»Kaufen wir ihn.«
Einverstanden. Wir eilten zum örtlichen LRA-Büro in einem ehemaligen Ladenlokal am Opportunity Way, im Herzen des Kasinoviertels. Anna versicherte, die Liga wäre die geeignete Anlaufstelle für Transaktionen dieser Art, da man dort einen Notfallfonds eingerichtete hatte, um gefährdete Einheiten freikaufen zu können, wenn mit anderen Mitteln nichts zu erreichen war. Die Gebieteranwälte, Levin und Pierce, waren beschäftigt, also wurden wir an ihre stellvertretende Beraterin verwiesen, einen Apple 9 Strafverteidiger Plus namens Dahlia, die uns mitteilte, daß tatsächlich in der Vergangenheit einige Schauspieleinheiten angekauft worden waren, jedoch nur im Anschluß an Prozesse gegen ein Studio wegen vertraglicher Unregelmäßigkeiten – unterbliebene termingerechte Auszahlung von Tantiemen und Dividenden an Agenten und Talentgrossisten. In solchen und ähnlichen Fällen hatte die LRA mehr als Sammelstelle fungiert, hatte die fragliche Einheit von dem Klienten – der als Kläger gegen das Studio auftrat – als Bezahlung für ihre Dienste erhalten, sie sofort dem Kodex entsprechend modifiziert und nach Horizont verschifft. Einen direkten Kauf, wie wir es verlangten, hatte man bisher noch nicht versucht, weil die Studios – im Vertrauen gesagt – eine harte Nuß waren und Stellar Entertainment als Marktführer ganz besonders. Aus diesem Grund waren bisher alle Versuche von fortschrittlichen Einzelpersonen oder Gruppen in dieser Richtung unterblieben.
»Oh, es gab einen Fall«, meinte sie. »Allerdings vor meiner Zeit.« (Sie war eine junge Einheit, ungefähr zwei Jahre alt, zu jung, um zu wissen, wie es vor der Einführung des Kodex gewesen war.) Sie schwieg einen Moment, um in Gedanken die Akten durchzublättern, und sagte dann: »Da ist es. Nein, wir hatten damals leider keinen Erfolg. Das Studio – es handelte sich um Stellar – zeigte sich zwar verhandlungsbereit, doch kam es zu keiner Einigung, weil sie einen Präzedenzfall fürchteten, der Scharen von Fans auf die Idee bringen könnte, den Studios ihre Idole abzukaufen. Das soll nicht heißen, daß wir nicht bereit sind, es ein zweites Mal zu versuchen. Lance London ist kein Star mehr; sie könnten sich bereit finden, ihn für einen vernünftigen Preis abzugeben. Und ein erfolgreicher Handel mit den Studios würde sich positiv auf unsere Sache auswirken. Wer weiß, wie viele Einheiten wir auf diesem Weg in Zukunft noch befreien können? In ungefähr einer Woche sollte es mir möglich sein, Ihnen eine vorläufige Antwort zu geben – die Bedingungen, den zeitlichen Rahmen usw. … Selbstverständlich werde ich Ihre Identität und Motive streng vertraulich behandeln. Das ist ein bezauberndes kleines Kind. Ein Semi? Das dachte ich mir. Ciao.«